Der Begriff “the second victim” wurde erstmals von Dr. Albert Wu im Jahr 2000 geprägt und beschreibt die psychologischen und emotionalen Auswirkungen von unerwarteten Ereignissen, Unfällen und medizinischen Fehlern auf das beteiligte Gesundheitspersonal oder andere sekundär Beteiligte Personen haben können. Während der primäre Patient der erste Geschädigte ist, erleben die Second Victims emotionale und psychische Traumata durch ihre Beteiligung am Vorfall. Wenn ein Unfall, eine Notsituation oder ein medizinischer Fehler auftritt, sind die Patienten und ihre Familien zweifellos die ersten Opfer aufgrund der direkten physischen oder emotionalen Schäden, die sie erleiden. Doch auch Ärzte, Pflegekräfte, andere Ersthelfende oder gar Zeugen, die in den Vorfall verwickelt sind, können erheblichen Stress, Schuldgefühle und Angstzustände erleben. Diese Erfahrungen können sich erheblich auf ihre psychische Gesundheit auswirken, ihr Wohlbefinden und ihre berufliche Leistung beeinträchtigen.
Dieses in der Öffentlichkeit noch weitgehend unbekannte, aber verbreitete Phänomen wurde durch die COVID-19-Pandemie nochmals verschärft, kam dadurch jedoch auch mehr in den öffentlichen Fokus. Das Second-Victim-Phänomen ist im angloamerikanischen Raum im Bereich der stationären Akutversorgung gut untersucht. Während eine Metaanalyse von Seys et al. aus dem Jahr 2013 Second-Victim-Prävalenzen von 10–42 % aller Befragten angibt, gehen aktuellere Studien von Prävalenzen über 50 % alleine im Rahmen der ärztlichen Weiterbildung aus. Nach Einschätzungen von Experten werden alle Behandelnden früher oder später einmal im Laufe ihres Berufslebens Second Victim.

Folgen einer Second-Victim-Traumatisierung
Laut Selbstauskunft betroffener Second Victims verarbeiten bis zu 2/3 aller Befragten solche Ereignisse dysfunktional. Es kann sich beispielsweise äußern in:
- Schlafstörungen
- Verlust an den Glauben in eigene Fähigkeiten
- Schuldgefühle, Isolation, Depression
- Wiedererleben der Situation (Flashbacks)
- Medikamenten- und/oder Alkoholkonsum
- Posttraumatische Belastungsstörung (PDBS)
- Lange Arbeitsunfähigkeit
Psychosoziale Notfallversorgung (PSNV)
Unter PSNV versteht man die Gesamtheit aller Aktionen und Vorkehrungen, die getroffen werden, um Einsatzkräften sowie allen weiteren notfallbetroffenen Personen wie Angehörigen, Ersthelfenden, Hinterbliebenen, Augenzeugen in der psychosozialen Be- und Verarbeitung von Notfällen zu helfen. Diese Maßnahmen werden bei Großeinsätzen durch den Einsatzabschnitt Psychosoziale Notfallversorgung geleistet. Die PSNV stellt daher die Psychosoziale Unterstützung (PSU) im Einsatzfeld der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben sicher. Hierfür kommen spezifisch ausgebildete PSNV-Fachkräfte zum Einsatz. Sie unterstützen u. a. die Feuerwehr und in die PSNV-Netzwerke eingebunden. Die Hilfsorganisationen arbeiten aus den eigenen Reihen heraus mit sogenannten PEERS aus dem Bereich der PSNV-E für ihre Einsatzkräfte.
Hilfe für Second-Victims
In den USA wurden basierend auf Patientensicherheitsforschungen zur Second-Victim-Problematik in den letzten Jahren in immer mehr Gesundheitseinrichtungen Hilfsprogramme für Second Victims etabliert. Im deutschsprachigen Raum sowie anderen europäischen Ländern gibt es bislang nur vereinzelte ehrenamtliche Initiativen wie den Verein PSUakut e. V. oder das EMPTY-Programm der Young DGINA (Deutsche Gesellschaft für Interdisziplinäre Notaufnahme). Flächendeckende und niederschwellig erreichbare Unterstützungsprogramme für Behandelnde existieren im deutschsprachigen Raum derzeit nicht.
Bewältigungsstrategien für Second Victims im Gesundheitswesen?
Die wichtigsten Bewältigungsstrategien für Second Victims stellen Peer Support, professionelle Beratung und Schulungen zur Resilienzförderung dar. Sie zielen darauf ab, die emotionalen und psychologischen Belastungen, die durch kritische Zwischenfälle entstehen können, zu lindern. Peer Support bietet betroffenen Personen die Möglichkeit, sich mit anderen auszutauschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, was das Gefühl der Isolation verringert. Professionelle Beratung durch Therapeuten oder Psychologen hilft, traumatische Erlebnisse zu verarbeiten und gesunde Bewältigungsmechanismen zu entwickeln. Schulungen zur Resilienzförderung konzentrieren sich darauf, die persönliche Widerstandsfähigkeit gegenüber Stress und Belastungen zu stärken, indem Techniken zur Stressbewältigung und emotionale Intelligenz vermittelt werden.
Schulungsprogramme zur Prävention
Für Personen, die sich in sicherheitskritischen Branchen bewegen oder gar täglich mit Unfällen und traumatisierenden Ereignissen in Kontakt sind, empfehlen sich Schulungen zu Prävention. Im Bereich der Notfallmedizin sind regelmäßige Schulungsprogramme essentiell, um das Bewusstsein für das Second Victim Phänomen zu erhöhen und dem medizinischen Personal effektive Bewältigungsstrategien zu vermitteln. Schulungen sollten Themen wie emotionale Resilienz, Stressmanagement und Peer-Support umfassen. Solche Programme fördern zudem eine offene Kommunikationskultur innerhalb der Institutionen.
https://www.springermedizin.de/pflege/covid-19/handlungsempfehlung-staerkung-der-resilienz-von-behandelnden-und/18342310#CR8
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